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Nordkinn,
der zweite Versuch |
Wo
Europa endet |
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Im
vergangenen Sommer
unternahm ich den Versuch, das nördlichste Ende des
europäischen Festlandes durch eine Wanderung zu erreichen.
Leider hat es damals nicht geklappt. Doch dieses Jahr plane
ich einen erneuten Anlauf, diesmal gemeinsam mit einer
Freundin und besser vorbereitet. Ich habe nun eine klare
Vorstellung davon, was mich erwarten könnte! Eine
deutsche Fluggesellschaft bietet den Flug statt nach
Lakselv
diesmal bis
Tromsø an. Und wie im Jahr zuvor gibt es für
speziell Interessierte die Möglichkeit, den Flug für knapp
300 DM zu buchen. Dafür müssen sie aber in der selben
Nacht mit der selben Maschine zurückfliegen. Ob man da noch
von Reisekultur sprechen kann, wagen wir zu bezweifeln.
Das
Wetter in Tromsø ist wesentlich besser als in Düsseldorf.
Es soll sich sogar noch während der Tour als unangenehm heiß
zeigen. In und um Tromsø bringen wir uns zwei Tage lang mit
kleineren Wanderungen in Form. Petra freut sich, als sie auf
dem Storsteinen in ein Schneefeld stürzen kann. Schnee im
Juli und in Sichtweite das Meer ist für sie schon etwas
besonderes. Nach diesen
zwei Tagen fahren wir mit dem Postschiff von Tromsø aus in Richtung
Nordkinnhalbinsel. In Hammerfest spurten wir morgens um halb Sieben von Bord, da
wir unbedingt Mitglieder im Eisbärenclub werden wollen - und siehe da, er hat
sogar geöffnet: extra für die Postschiffreisenden! Zwar sind wir an diesem frühen
Morgen die einzigen Neumitglieder, aber das südwärts gehende Schiff hält
mittags für längere Zeit. Da sind bestimmt mehr potentielle Mitglieder an
Bord. Was haben wir von dem Beitritt? Ein Postkarte, eine Eisbärenanstecknadel
aus Perlmutter, eine Urkunde und die Clubregeln. Und was hat der Eisbärenclub
von unserem Beitritt? Einen kleinen Geldsegen im Dienstleistungsbereich. Bei
mittlerweile mehr als 100.000 Mitgliedern eine doch bemerkenswerte Sache... Der
Hurtigrutenstopp auf der Nordkapinsel Magerøy ist mein drittes und Petras
erstes Nordkaperlebnis. Und dieses Mal ist endlich kaum Nebel! Das Nordkaphorn sehen wir zum ersten Mal,
ebenso westlich die Landzunge Knivskjellødden, immerhin etwas nördlicher als
das Nordkap selbst. Petra und ich gehen von dem Nordkapmonument aus die Küste
nach Osten und halten erfolgreich Ausschau zur Nordkinnhalbinsel, die sich fern
und fein in südöstlicher Richtung vom Horizont abhebt. Laut Baedecker ist es 63
Kilometer in südöstlicher Richtung vom Nordkap entfernt. Abends
legt das Postschiff in Mehamn an, und wir gehen von Bord.
Eigentlich wollen wir in dem Hotel im Ort übernachten, wo
ich schon letztes Jahr Station machte. Doch das Hotel
ist zu unserer Überraschung geschlossen! Es sei bereits seit einem halben Jahr zu,
der Eigentümer habe bankrott gemacht, so erzählt es uns
Inge (in dem Fall ein Männername) vom
Hamburgerrestaurant gegenüber. Inge selbst scheint ein
Hansdampf in allen Gassen zu sein. Er organisiert uns eine
Übernachtungsmöglichkeit in dem Clubhaus des örtlichen
Tauchclubs, schlägt uns eine günstige Wanderroute nach
Kinnarodden vor, nennt uns eine Hütte unterwegs, die wir
nutzen dürfen, prophezeit uns gutes Wetter für die nächsten
fünf Tage und zwischendurch brutzelt er uns zwei köstliche
Hamburger.
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Erster Tag |
Um zu dem
Startpunkt unserer Wanderung zum nördlichsten Flecken vom europäischen
Festland zu gelangen, fahren wir erst mal rund sechs Kilometer mit dem Bus die
Landstraße 888 südwärts. Der Fahrer lässt uns bei einem Landstrich namens
Ostebakkan raus. Wir klettern den Abhang herunter, und vor uns erstreckt sich
breit und reißend das Bächlein Mehamnelva. Die Querung
dauert etwas mehr als eine halbe Stunde, und der nächste Anstieg bringt uns
schon gut außer Atem. Die erste Rast ist fällig. Dabei sind wir erst von der
Straße, von wo aus wir gestartet sind, nur wenige hundert Meter entfernt.
Für die rund
60 Kilometer bis zum Nordkinn und zurück haben wir u. a. wegen des schwierigen
Weges fünf Tage eingeplant. Statt der teuren, relativ ungenießbaren
Trekkingmahlzeiten haben wir uns diesmal reichlich mit billigen Knorrtütchen
eingedeckt. Diese schmecken uns zwar leckerer, aber „sie verfügten nicht über die
so wichtigen komplexen Kohlenhydrate“, wie uns der Verkäufer in einem Düsseldorfer
Trekkingladen erklärte, „schließlich brauche man so was auf solch
einer Wanderung!“. Zum unserem Tütchenproviant kommen viel Schokolade, Nüsse
und Müsliriegel. Wir sind schließlich nicht auf einer
Nordpolexpedition
unterwegs, und ein paar Pfunde weniger tun uns auch ganz gut... Jeder von uns
schleppt rund 13 Kilo auf seinem Rücken. Immerhin sind es vier Kilo weniger als bei
meiner alleinigen Wanderung im Vorjahr
(siehe Nordkinn
97). Nach sieben
Stunden Wanderung, einigen Bachquerungen und zig Bergklettereien erreichen wir
am Abend die Steinhütte, von der uns Inge erzählt hat. Den angrenzenden See
taufen wir Hüttensee. Laut Karte haben wir gerade mal eine Strecke von sechs
Kilometer zurückgelegt. Aber das schöne Wetter für die nächsten Tage stimmt
uns positiv, und es ist gut, dass wir nicht das Zelt aufzubauen brauchen. Etwas
weiter nordöstlich vom Hüttensee ist meine Lagerstätte vom Vorjahr. Wir sind
zwar jetzt südlicher, aber dafür schon ein Drittel mehr westlich auf dem Weg
nach Kinnarodden. Die Hütte
- eigentlich ein Teil eines alten
Walfängerschiffes - ist
undefinierbar alt, aber ausgestattet mit Gasherd, Sofas und zwei Schlafmöglichkeiten.
Mehrere Schlafsäcke hängen von der Decke, nur ein bisschen modrig riecht es.
Wahrscheinlich ist die Hütte schon länger nicht mehr genutzt worden. Etliche
Flaschen gefüllt mit Hochprozentigem stehen in den Regalen. „Wahrscheinlich für Männerabende...“, bemerkt Petra, die sich doch
ein bisschen vor den schabenden und knabbernden Geräuschen unter dem Hüttenboden
scheut. Dafür ist die Hütte lichtdicht, und ich zumindest kann für die erste
Nacht gut schlafen, da es ja hier oben bis Ende Juli ununterbrochen taghell ist.
Eine komplette Tagesration lassen wir für unseren Rückweg
zurück. Das Wasser aus dem angrenzenden See schmeckt nicht
so gut wie aus den Bachläufen zuvor. An den Uferrändern sind
Schaumkronen auf dem Wasser, obwohl es nicht windig ist.
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Zweiter
Tag |
Am Morgen geht
uns das Packen der Rucksäcke schon besser von Hand. Das Marschieren durch das
immer steiniger werdende Gelände klappt schneller und besser. Aber prompt mache
ich einen Fehltritt, und meine Gelenkverletzung im rechten Fuß meldet sich
schmerzhaft zurück. Sofort ziehe ich meine Schuhe aus und halte den Fuß in den
kalten Bach. Nach einiger Zeit ist der Fuß kältetaub, und ich schlüpfe
wieder in die Schuhe. Inge hat uns vor einer Rettungsaktion gewarnt. Diese würde
sehr teuer werden, da extra ein Hubschrauber angefordert werden müsse. Ich beiße
auf die Zähne und klettere weiter von Stein zu Stein. Als eine Ironie des
Schicksals können wir dann eine Rentierfamilie beobachten, die leichtfüßig
erst von Eisfeld zu Eisfeld eilt und schnell über den holprigen Boden
entschwindet. Weitere
Eisfelder laden uns zum angenehmen Wandern ein, aber auch zu unfreiwilligen
Rutschpartien. Auf ihnen können wir lange Strecken gut und schnell zurücklegen.
Ebenso können wir die roten Stäbe gut entdecken, die den Wanderweg markieren.
Doch im Schnee ein Schrei von Petra: Auch sie ist mit dem Fuß umgeknickt. Die
Eisfelder erweisen sich nämlich als heimtückisch. Unter dem Eis kann eine große,
freie, schon weggetaute Fläche sein. Ein Einkrachen bis zu den Knien besonders
an den Rändern der Eisfelder ist bei diesem warmen Wetter sogar sehr
wahrscheinlich. Petra beißt auch auf ihre Zähne, und viel vorsichtiger kraxeln
wir weiter, immer die teure Rettungsaktion vor Augen. Laut
Landkarte (Maßstab 1:50.000) schwenken wir jetzt auf den Bjørnviktuva ein, den
vermeintlichen Wandervorschlag. Dies ist zwar wirklich eine mögliche
Wanderroute, aber die gestrichelte Linie markiert die Grenze der beiden
Gemeinden Lebesby und Gamvik. Er heißt wohl auch deswegen Bjørnvik, weil es
tatsächlich ein Bärenweg ist: Er fordert uns Bärenkräfte ab, überall ein
schier endloses Meer von Felsblöcken. Petra und ich sind froh, dass wir
Wanderstöcke dabei haben. Die Streckenleistung sinkt merklich, und einige
Beinahstürze lassen uns noch behutsamer werden. Schmarotzerraubmöwen umschwärmen
uns aufgeregt, während wir für weniger als 1000 Meter mehr als eine Stunde
brauchen. Plötzlich
passiert Petra ein größeres Flugzeugwrackteil: ein rundes Kabinenfenster.
Wahrscheinlich ließen es sammelwütige Wanderer wegen des anstrengenden Weges
zurück.
Wir wissen aus anderen Reiseberichten, dass weiter nördlich hier am Nordkinn die Wracks von zwei
deutschen Flugzeugen liegen müssen, die 1942 niedergegangen sind. Eines (oder
beide?) soll bei dem Kampf um das Schlachtschiff
Scharnhorst abgeschossen worden
sein. Wir
trennen uns, weil jeder glaubt, die leichtere Route gefunden
zu haben. Petra klettert zielstrebig geradeaus, immer weiter
durch die Steinblöcke. Ich mache dagegen einen Bogen nach
rechts, weil dort zwei längere Eisfelder den Berg hochführen. Aber was ich durch die Eisfelder an Zeit gewinne,
muss ich doppelt und dreifach in den Umweg stecken. Auf dem
Hochplateau haben wir uns schließlich verloren. Trotz
Trillerpfeifen und Rufen dauert es einige Zeit, bis wir uns
wiederfinden.
Da wir heute schon
mehr Zeit als geplant gelassen haben und langsam
mehr und mehr Nebelschwaden den Blick auf die Sonne verschleiern, entschließen
wir uns, ein Nachtlager zu suchen. Das ist hier in der Gegend nicht mehr so
einfach. An einem See mit zwei langen Eisfeldern links und rechts an den Seiten
werden wir endlich fündig. Am Ufer finden wir eine flache Stelle, die für
unser Zwei-Personen-Zelt reicht. Obendrein können wir in der Nähe auf den
Steinen gut kochen und essen - in diesen Steinaufschüttungen ist soviel ebener
Boden keine Selbstverständlichkeit
mehr. Richtig gemütlich ist es hier in der Wildnis! Diesen See nennen wir Schneesee, ein
richtiger Traumsee. Mein
Mobiltelefon (zwei Watt) zeigt sogar noch die Möglichkeit einer Verbindung an.
Sofort probieren wir es aus und
telefonieren mit den Daheimgebliebenen: In Düsseldorf regnet es, und es ist
kalt - kälter als bei uns hier im sonnigen Norden. Eigentlich ist das
Mobiltelefon nur für den Notfall vorgesehen. Und dass es notwendig ist, eines
dabei zu haben, erleben wir zwei Tage weiter. Aber zum Glück nicht bei uns,
doch davon später mehr. Richtig
kalt wird es am
Abend. Mit klappernden Zähnen machen wir uns schlafsackfertig. (Geschätzt ist
es ungefähr 20 Grad und mehr am Tage! Die Nachtkühle ist mit gemessenen vier
Grad als eisig zu bezeichnen.). Wir schlafen nicht sofort ein, denn die Füße
schmerzen. Es kribbelt bis in die Knie, durch die Nervenbahnen schießen heftige
Schmerzsalven.
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Dritter Tag |
Am nächsten
Morgen brechen wir in Richtung Sandfjord auf. Übrigens nicht die einzige
kartographierte Lokalität namens Sandfjord hier auf der Nordkinnhalbinsel. Im
Nordosten ergießt sich ein weiterer Sandfjordelva in einen weiteren Sandfjord.
Den Weg durch ‚unseren’ Sandfjord hat uns Inge aufgemalt. Von dort
wollen wir auf Meereshöhenniveau am Küstenrand des Nordkinnfingers entlang
wandern, um von unten her den rund 300 Meter hohen Anstieg zu schaffen. Auf dem Weg zum
Sandfjord wandern wir an einem der beiden Flugzeugwracks vorbei. Ziemlich
zerfetzt sieht es aus. Überall liegen Teile herum, 56 Jahre nach dem Absturz.
Wie wir später erfahren, soll der Pilot versucht haben, die
Maschine auf dem Hochplateau zu landen und ist dabei
aber die Abhänge heruntergestürzt. Angeblich haben alle
überlebt. Auf jeden Fall sieht das Wrack verheerend aus. (Die
Wracks sind im Herbst 2001 geborgen worden.)
Der Boden ist nun leichter zu begehen, je näher wir an die Küste kommen. In der Bucht dümpeln zwei Fischerboote, die aber nacheinander ins
offene Meer abdrehen. Letztes Jahr konnte ich hier in der Bucht mehrere Weißwale
bei ihrer Mahlzeit zuschauen. Kurz bevor wir
den Strand erreichen, versperrt uns ein rund 50 Meter tiefer, fast senkrechter
grüner Abhang den Weg. Damit haben wir nicht gerechnet! Für uns unerfahrene
Kletterer ist das zu gefährlich, besonders weil ich Schwierigkeiten mit dem
rechten Bein habe. Wir gehen die Kante ab, um einen geeigneten Abstieg zu finden.
Aber nirgendwo bietet sich eine Abstiegsmöglichkeit. Ein einsames
Motorboot liegt am Strand. Doch wo sind die Leute, die zu diesem Boot gehören? Da sich
heute keine
Gelegenheit mehr bietet, das Nordkinn zu erreichen, wandern wir
bis zu dem Bach Sandfjordelva zurück, von wo aus wir am nächsten Tag das
Hochplateau erklimmen wollen. In der Ferne können wir schließlich die Leute
entdecken, die zu dem Boot gehören. Es scheint eine Familie zu sein, die die
Seen hier zum Angeln nutzt und am Nachmittag wieder zum Boot zurückkehrt. Für
uns ist es ein komisches Gefühl, wieder Menschen zu sehen. Das Zelt ist am
Bach schnell aufgebaut, aber der Boden ist sehr steinig. Das Bewegen ohne
Wanderstöcke fällt uns schwer. Es ist fast gefährlicher, die fünf Meter vom
Zelt zum Kochplatz zurück zu legen, als die steinigen Berge zu besteigen. Unsere Knorrtütchen
langen prima. Bei entsprechender Rationierung könnten wir nochmals fünf
Tage wandern. Doch so langsam neigt sich das Benzin für unseren Kocher dem Ende
zu. So müssen wir am nächsten Morgen auf Kaffee und Cappuccino verzichten,
um Sprit zu sparen.
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Vierter Tag |
Der Anstieg am
nächsten Morgen ist knochenhart. Petra verläuft sich auf der Suche nach einem
geeigneten Aufstieg und „schwimmt“ mal wieder durch ein Steinmeer. Ich dagegen
habe Glück und finde etwas tiefer eine gute Passiermöglichkeit durch
das Geröll. Während des Aufstieges sehe ich im Sandfjord meine 'Freunde' vom Vorjahr wieder - mehrere Weißwale sind im Sandfjord
unterwegs. Von einem der höchsten
Punkte unserer Tour, dem 300 Meter hohen Magkeilfjordfjellet, haben wir einen schönen
Blick auf die Küste der Nordkinnhalbinsel hinüber über das 135 Meter hohe Kap
Smørbringen bis zum Kap Kamøynœringen, welches laut Karte 137 Meter hoch ist.
Direkt links daneben liegt die kleine Felseninsel Kamøya, die uns an den zackigen Rücken
einer Riesenechse erinnert. Vor uns
erstreckt sich ein großer See, von uns Mückensee getauft. Diese Wasserstelle
ist die letzte Möglichkeit, unsere Wasserflaschen zu füllen. Die Uferregion
ist sehr sumpfig. Ein ständiges helles und lautes Surren der Mücken erfüllt die
Luft. Schwarze Wolken dieser Plagegeister umhüllen uns. Doch unser Leid ist des
anderen Freud’: Die Vögel leben hier wie im Schlaraffenland. Sie brauchen nur
während ihres Fluges ihren Schnabel zu öffnen, um Nahrung aufzunehmen.
Schmarotzerraubmöwen
tummeln sich im Verfolgungsflug, Küstenseeschwalben greifen uns an, und andere
Möwenarten geifern lautstark hinter uns her. Ob das Wasser im See, der über
keinen Zulauf verfügt, doch so ganz sauber ist, wagen wir wegen des strengen
Geruchs von Vogelmist und angesichts der darauf schwimmenden Vögel zu
bezweifeln. In der Nähe
des Sees finden wir auf dem sumpfigen Boden dennoch einen Lagerplatz für unsere
Rucksäcke. Ich präge mir die Stelle gut ein, und mit dem Kompass nach Norden
marschieren wir die noch vier Kilometer lange Strecke los. Ein Irrtum, wie es
sich bald zeigen wird. Statt des
Nordkinns erreichen wir das weiter östlich gelegene Kap Maghetta. Wir haben die
magnetische Deklination nicht berücksichtigt: Wenn die Kompassnadel nämlich
auf Norden zeigt, weist sie auf den magnetischen Nordpol, die Karte ist aber auf
den geographischen Nordpol ausgerichtet. Hier oben im Norden macht sich diese
Differenz schon stärker bemerkbar. Und so kurz vor dem Ziel kümmern wir uns natürlich
nicht mehr um Kleinigkeiten und geraten zu weit östlich. Dabei treffen
wir auf ein paar Rentiere, die blindlings in unsere Richtung rennen, da wir
gegen den Wind stehen. Erst als wir laut rufen, bemerken sie uns endlich. Sonst
hätten sie uns bestimmt über den Haufen gerannt! Zum Glück
kenne ich das Nordkinn noch vom letzten Jahr her. Auf jeden Fall bin ich stark
irritiert, den mir bekannten Felsen ganz weit nordwestlich zu erblicken. Wir ändern
die Marschrichtung und müssen alle Geländeorientierungspunkte aufgeben, die
uns zu unseren Rucksäcken zurücklotsen sollten. Aber ich glaube den Lagerplatz
noch gut im Gedächtnis... Kurz vor dem
Nordkinn treffen wir auf das Wrack der zweiten deutschen Jagdmaschine, welches
im Gegensatz zur ersten erstaunlich gut erhalten ist. Das Wandern ist
heute wegen der heißen Sonne recht schwer. Da wir auf den Armen, im Nacken und
Gesichtern schon rot sind, müssen wir unsere dicken Fleece-Shirts anziehen, um
uns vor die Sonne zu schützen. Dadurch schwitzen wir in unseren Polyestersachen
um so mehr. In Strömen läuft uns der Schweiß den Rücken herunter. Schließlich
erreichen wir die letzte Senke. Wir haben uns schon vorher darauf geeinigt,
dass, wenn wir keinen geeigneten Abstieg fänden, unsere Wanderung hier
erfolgreich zu Ende sei. Um die restlichen paar hundert Meter zu passieren, hätten
wir erst über einen sehr steilen und gerölligen Grund 160 Meter in die Tiefe
und dann wieder in die Höhe gemusst. Das ist in unseren Augen falscher Ehrgeiz.
Das Ziel der Wanderung ist der Weg, und den haben wir mit Erfolg bewältigt. Wir fallen uns
in die Arme, stoßen mit Wasser aus dem Mückensee an, verspeisen zwei Müsliriegel
und machen unser Erfolgsfoto. Jetzt sind wir die nördlichsten Menschen auf dem
europäischen Festland... Wirklich die nördlichsten Menschen? Petra stößt
mich irritiert an und gibt mir das Fernglas. Tatsächlich, zwei Gestalten
steigen durch die Senke die andere Seite hoch, die noch nördlicher ist, bleiben
dort einige wenige Minuten (wirklich Minuten) und steigen wieder
hinunter. In der Bucht
liegt ein größeres Schiff. Für uns gehören die beiden offensichtlich zu
diesem Schiff. Durch das Fernglas können wir jetzt eine Frau und einen Mann
erkennen. Während die Frau weit vorgeht, hat der Mann wohl keine Schuhe an,
wandert offensichtlich barfuss durch das mitunter sehr scharfkantige Geröll. So erspähen
wir die Situation. Für uns ist klar: Das sind Touristen, die sich mit dem
Schiff haben an die Küste fahren lassen, und die mal eben schnell auf den nördlichsten
Punkt klettern wollen. Bald sind die
beiden aus der Senke heraus verschwunden, und Petra und ich sind - endlich - die
nördlichsten Menschen in Europa, alles ist jetzt südlich. Wir sonnen uns in
Ruhm und Sonne. Die Auflösung des Rätsels um die beiden Wanderer sollen wir
aber bei unserer Rückkehr in Mehamn erfahren. Ein letzter
Ausschau ins Rund, der Rückweg ruft. Diesmal halten wir uns genau in
Laufrichtung zum Mückensee, doch dieser Weg ist viel steiniger. Auf halben Wege
drehen wir uns zu einem letzten Blick um. Was wir sehen, lässt unseren Puls
schneller schlagen, aber nicht zu unserer Freude: Dichter Nebel quillt hinter uns
her, verfolgt uns regelrecht. Wir beeilen
uns, zu unseren Rucksäcken zu kommen. Es ist ein richtiges Wettrennen zum Mückensee.
Plötzlich ruft Petra: „Da liegen ja unsere Rucksäcke...“ Durch
Zufall haben wir sie wieder gefunden, so weit ist es wohl mit meinem Ortsgedächtnis
nicht her. Aber zu meiner Verteidigung muss ich erwähnen, dass sich
zwischenzeitlich die optische Entfernung verändert hat, alles scheint jetzt
weiter weg zu sein. Aber dennoch
haben wir Glück im Wetterpech, schultern unsere Rucksäcke und stürmen weiter
südwärts. Der dichte Nebel, der vom Meer über das Nordkinn kriecht, kommt immer
schneller. Den Abstieg vom Hochplateau zum Sandfjordelva klappt gut. An den
Ufern des Baches vorbei gelangen wir mit stark schmerzenden Füßen und völlig
fix und fertig wieder an unserem Schneesee, immer noch den Nebel dicht im Nacken. Rund 20
Kilometer haben wir heute in einem kräftezehrenden Gelände zurückgelegt.
Während wir das Zelt aufbauen, holt uns der Nebel
schließlich ein. Die Eisfelder an den Ufern spiegeln sich
gerade noch scharf im glatten Wasser. Sekunden später
huschen feuchte Nebelschwaden geisterhaft über die
Berge, passieren unseren See, unser Zelt. Dazu vollkommene Stille.
Träumend schauen wir aus dem Zelt. Der Höhepunkt unserer
Wanderung ist geschafft, das Ziel unserer Wünsche erreicht.
Zufrieden und glücklich schlafen wir ein. Dieser Tag hat
alles von uns gefordert.
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Fünfter Tag |
Dichter Nebel hüllt
uns noch am Morgen ein. Es ist kalt. Anfangs finden wir die roten Stangen gut, ebenso
wie die älteren Steinhaufen, die markant in der Gegend stehen. Doch beim Knick
nach Osten passiert es, wir kommen im Nebel vom Weg ab. Zwar stehen da hin und
wieder die alten Steinmarkierungen, aber es ist keine rote Stange mehr zu sehen.
Die Täler und Seen sind uns gänzlich unbekannt und in unserem Kartenausschnitt
nicht mehr eingetragen. Wir gehen zu weit westlich. Mit Kompass versuchen wir,
zur letzten Stangenmarkierung zurückzukehren. Auf halben Wege
ist es wieder Petra, die weit östlich einen dieser roten Striche in der
Landschaft entdecken kann. Wir sind wieder auf unserem Weg! Der Umweg hat fast eine
Stunde gekostet. Es hätte auch leicht mehr werden können... Doch die nächste
unangenehme Überraschung erwartet uns. Durch das sehr warme Wetter der letzten
Tage sind die Eispisten, die uns das Wandern so erleichtert haben, fast ganz weg
geschmolzen. Zutage kommen die gleichen großen Steinbrocken, die uns das
Leben schon die ganze Zeit erheblich erschweren. Nach
stundenlanger Wanderung entdeckt Petra das Wrackteil vom Hinweg wieder. Doch die
nächste rote Stange ist nicht zu sehen. Wir lassen uns auf einer ungefähr zwei
Quadratmeter großen planen Fläche eines Steines nieder, um uns neu zu
orientieren. Übrigens die einzige Möglichkeit zur Pause weit und breit. Mit
Fernglas versuche ich, den nächsten roten Stab ausfindig zu machen. Zwei,
dreimal halte ich den roten Strich in der Optik für eine Lichtreflexion. Doch
dann bin ich sicher, es ist wirklich die nächste Markierung. Sie ist kaum zu
sehen. Bis zu der Hütte
sind es nur noch rund zwei Kilometer, doch der
Bjørnvik macht seinen Namen
wieder alle Ehre. Mittlerweile beherrscht die Sonne wieder das Himmelsgeschehen.
Dabei können wir das Phänomen eines Halos beobachten, eine ringartige,
atmosphärische Erscheinung um die Sonne. Der
Halo entsteht im allgemeinen durch
die Eiskristalle hoher Wolken.
Der
Blick zu den nördlichen Bergen verheißt uns aber weiter Nebel. Wir setzen die
mörderische Steinkletterei weiter fort. Während Petra sich eisern an die
Wanderroute hält, versuche ich mal wieder den Weg des geringsten Widerstandes.
Doch mein vermeintlich leichter Weg endet diesmal abrupt auf einem Steilhang und
keine Möglichkeit zum Abstieg. Nach einiger
Zeit taucht Petra unterhalb des Berges auf. Mit Zurufen verständigen wir uns,
dass wir gemeinsam zurückgingen und Petra mir dann signalisieren sollte, wenn sich
für mich eine Abstiegsmöglichkeit böte. Nach einer weiteren halben Stunde
bin auch ich endlich unten. Die letzte
Linkskurve zur Hütte nehmen wir mit drei Bachüberquerungen und viel Hin- und
Herkletterei, dann erwartet uns das feste Dach der Hütte über den Kopf. Durch
die Fensterabdeckungen an den Fenstern haben wir endlich wieder eine dunkle
Nacht.
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Sechster
Tag |
Inge hat uns
eine günstige Wetterprognose für fünf Tage gegeben, heute ist der sechste. Es
ist diesig, aber zumindest liegt kein Regen in der Luft. Und es ist der Tag des
kleinen
WM-Finales. Kroatien spielt nachmittags gegen Holland. Während der
Wanderung hat uns Freund Andreas mit Kurzmitteilungen (neudeutsch: SMS)
von der WM auf der Anzeige versorgt. Diese alphanumerischen Informationen können
per Mobiltelefone übermittelt werden, und so wissen wir über den Stand der
Dinge bescheid. Selbst auf dem
Postschiff hat dieser Service von Andreas funktioniert. So wussten wir immer
die aktuellen Ergebnisse, da die interessanten WM-Spiele in Norwegen nur im
bezahlten Fernsehen (Pay-TV) übertragen werden. Diese sind auf den Postschiffen
sehr zum Leidwesen der mitfahrenden Touristen nicht zu sehen. Die
Felskletterei ist auch heute wieder kräfteraubend. Einen versteckten Rucksack
mit überflüssigem Gepäck finden wir sofort wieder. Eine
Rast, das kühle, leckere Wasser aus dem
Sjørfjordelva
und der letzte Kilometer liegt
vor uns. Noch eine Bachquerung, wir haben es geschafft! Rund sechzig
Kilometer in sechs Tagen in einem anstrengenden Gelände. Wir haben es zwar
geschafft, aber wir sind noch nicht am Ende unserer Wanderung. Die fußballbegeisterten
Nordkinnmänner sitzen vor den Fernsehern, und die Landstraße 888 liegt
verwaist da. Kein Auto oder Bus weit und breit, keine Mitfahrmöglichkeit bietet
sich uns. Über uns kreist und schreit ein wohl hungriger Bussard... Die gut sechs
Kilometer nach Mehamn bereiten uns eigentlich keine Strapazen. Nur schmerzen nach
dieser Asphaltwanderei plötzlich die Knie- und Fußgelenke. Die Wiederkehr
nach Mehamn und die Ankunft bei Inge’s Hamburgerrestaurant tut mir besonders
gut nach dem Abbruch der Wanderung im letzten Jahr. Inge steht klatschend im
Fenster und ruft „Congratulations“. Braungebrannt, beide mit gut zehn
Pfund weniger auf den Rippen und ich mittlerweile mit Bart, so vertilgen wir bei
Inge zwei große Hamburger mit Pommes. Die Zivilisation hat uns wieder. Beim Essen erzählt
uns Inge das Geheimnis der beiden Leute am Nordkinn, die wir durch das Fernglas
beobachteten. Bei den beiden Wanderern handelte es sich um Finnen, die
wie wir auch das Nordkinn als Ziel hatten. Er marschierte wirklich barfuß; wir hatten
das durchs Fernglas richtig beobachtet. Denn im Steinmeer des Bjørnviktuva waren
die Schuhe des einen Wanderers kaputtgegangen. Daraufhin mussten sie über ihr Mobiltelefon einen
Notruf absetzen. Und so kam jenes Schiff zur Hilfe, welches wir in der Bucht
gesehen hatten. Die beiden hatten sich retten lassen müssen, während
wir die Tour ohne Hilfe von außen geschafft haben. Ein wenig stolz sind wir
jetzt doch auf unsere Leistung und lachen uns an. Inge gibt uns
den Schlüssel zum Clubhaus des Tauchclubs, damit wir
uns duschen können. „It’s for free.“, lacht er. Damit endet das Abenteuer Nordkinn, das
für uns eines der letzten Abenteuer in unberührten Gegenden Europas bedeutet,
und bei dem wir wirklich viel Glück gehabt haben. Nur die beiden großen Zehen,
die sind heute einige Wochen nach der Wanderung immer noch taub...
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|
Autor:
Th.
Bujack
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Veröffentlichung und Verbreitung nur mit
Einverständnis des Autors!
Alle
Rechte bei der NORDLANDSEITE, 1998
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Norwegen
aus der Luft.
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Noch ein Tick nördlicher als das Nordkap selbst:
Knivskjellødden auf der Insel Magerøy.
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Die Aussicht,
die mehr als 100.000 Touristen pro Jahr anzieht: Der Blick vom Nordkap.
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Schnee und
Steine, schwer ist die Strecke.
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Der
Ausblick vom Magkeilfjordfjellet.
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Der
Mückensee auf dem Hochplateau.
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Das relativ gut erhaltene Wrack einer
Ju88. Diese war bei dem Kampf um das Schiff Scharnhorst abgeschossen worden und
musste notlanden.
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Das
ist das nördliche Ende von Europas Festland: der Nordkinnfinger mit dem
Endpunkt Kinnarodden.
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Der Schneesee bei unserer
Ankunft... |
...
und wenige Minuten später.
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Im Nebel
bauen wir das Zelt auf.
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Ein
Bad im Steinmeer. Da wird die Wanderung zur regelrechten Knochenarbeit.
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Die Fußball-WM auf Mobiltelefon:
4.7.1998 23:59 "FRA-ITA 4:3 nE. BRA-DÄN 3:2.
NL-ARG 2:1. DEU-KRO 0:3 :-(( Machts gut Andreas"
8.7.1998 22:58 "Moin, FRA-KRO 2:1 Ciao Andreas"
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Unser
guter Geist bei der Wanderung: Inge im Fenster seines
Hamburgerrestaurants
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Alle
Fotos und Copyright: NORDLANDSEITE |
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