Das Düsenflugzeug
macht es möglich: Um 20
Uhr stehe ich noch am Düsseldorfer Flughafen, und sechs Stunden später
baue ich mein
Zelt auf dem Campingplatz in
Lakselv in Nordnorwegen auf. Der alte Grieche Pytheas von
Massalia, der erste Skandinavienreisende überhaupt, hat vor über
2.300 Jahren für die
Reise in den Norden noch Jahre gebraucht Das Skandinaviengefühl, welches sich bei mir
normalerweise erst langsam bei einer Nordreise entwickelt, wird völlig durcheinander
gebracht. Plötzlich bin ich weit oberhalb des Polarkreises. Und am nächsten Tag
geht es
direkt zügig weiter. Mit einem Überlandbus bin ich am nächsten Abend schon auf der
Nordkinnhalbinsel in Mehamn am Hotel, von wo ich die Wanderung nach Kinnarodden beginnen
will. Alles geht viel schneller, als es in meiner Planung berücksichtigt
ist. Schon ein
halbes Jahr vorher habe ich mich über die Nordkinnhalbinsel
informiert, entsprechendes
Kartenmaterial bestellt und mich mit Radfahren und Wandern in Form gebracht. Immerhin
gilt
es, insgesamt rund 60 Kilometer in unwegsamen Gelände hin- und zurückzuwandern. Da ich
es auch nicht in einem schnellem „Rutsch“ machen will, nehme ich mir für die
gesamte Strecke fünf Tage Zeit. Geübte Wanderer sollen die Tour sogar in 24
Stunden schaffen. Zwölf
Tafeln Schokolade
In Mehamn teile ich Peter, dem
Hotelbesitzer, meinen Zeitplan, meine ungefähre Strecke und die Nummer meines
Mobiltelefons mit, welches ich für den Notfall mit dabei habe. Außerdem
habe ich im
Hotel die Möglichkeit, Sachen zu deponieren, so dass ich nur die Sachen mit dabei
habe,
die ich wirklich brauche: Sechs warme Tütenmahlzeiten, zwölf Tafeln Schokolade, zwölf
hoch kalorische Müsliriegel (fünf Tage plus einem Reservetag), Maggiewürfel,
Benzinkocher, Geschirr, Iso-Matte, Schlafsack, Zelt, Wanderstock, Knieschoner, Sandalen,
Sachen zum Wechseln, Filme, Kamera und Kompass. Außerdem Verbandszeug und
Medikamente, insgesamt 17 Kilo inklusive Rucksack. Eigentlich nicht zuviel. Aber mein Rücken, mein Fuß und das Gelände sind da anderer Meinung, wie
es sich später zeigen
soll. Bei gutem Wetter marschiere ich morgens vom
Hotel aus los. Mein Plan ist, relativ früh vom Südkurs hin nach Westen vorzustoßen. Der Bjørnvik, ein in der Karte eingezeichneter vermeintlicher Wandervorschlag, verläuft mir zu
weit südlich.
Früh wird der Sørfjordelva
erreicht, einem kleinen, aber dafür
jetzt im Juli ein Bach mit starker
Strömung. Für diesen Fall habe ich die Sandalen eingepackt. Mit
zwei Beinah-Stürzen erreiche ich in dem knietiefen und reißenden Wasser trotzdem
trocken das andere Ufer. Die erste Hürde ist genommen.
Wandern im Zickzackmuster
Die
folgenden Berge sind dafür recht anstrengend. Immer geht es
steil hoch, und die 150 Höhenmetern machen sich schon in den
Beinen bemerkbar. Um überhaupt hochzukommen, muss ich im
Zickzackmuster marschieren. Plötzlich finde ich mich
in einer Rentierherde wieder, die zu allen
Seiten auseinander rennt. In dem Gelände kann ich mit
ungeübten Augen die Rentiere nur schwer erkennen, da
sie sich kaum von dem unruhigen Hintergrund abheben. Das Grün wird immer spärlicher und die
Steine immer größer. Bei den Abstiegen muss ich jetzt gut aufpassen, wo ich mit den
Füßen aufsetze. Eine Kapselverletzung im rechten Fußgelenk von vor acht Wochen
bricht
trotz eines speziellen Stützstrumpfes langsam wieder auf. Nach einigen Stunden des Wanderns
baue ich
an einem kleinen See mein Zelt auf. Die Strapazen reichen
für den ersten Tag. Die zurückgelegte Strecke beträgt gerade mal knapp fünf
Kilometer, und ich bin jetzt südlicher als beim Beginn meiner Wanderung.
Geröll, Geröll, Geröll...
Von
dem Zeltplatz aus unternehme ich kleinere Exkursionen in das
umliegende Gelände. Praktisch ist für mich ein Weiterkommen
mit dem lädierten Fuß von dieser Stelle aus nicht mehr
möglich. In jeder Richtung, außer der, aus der ich gekommen
bin, liegen riesige Geröllhalden mit Steinen in der Größe
von Fußbällen und größer. Ein Fehltritt würde vermutlich
eine Steinlawine auslösen. Bei meinen kleineren Wanderungen
trinke ich
Wasser aus dem See, der das Wasser aus einem anderen See bekomme und selbst wieder in einen
weiteren See mündet. Dieses zwölf Grad kalte Wasser schmeckt einfach nur köstlich! Überall wachsen kleine
arktische Pflanzen, wie z. B. Mini-Farngewächse. Auch
liegen hier viele
abgeworfene Rentiergeweihe herum, für die die Touristen in den Souvenirläden in den
norwegischen Städten viel Geld bezahlen müssen.
Aufgabe
Doch je mehr ich die Gegend
untersuche,
um so mehr muss ich die Ausweglosigkeit meines Unterfangens einsehen. Selbst das
Mobiltelefon funktioniert nur auf den Bergspitzen. Würde mir in den Tälern etwas
passieren, könnte ich keine Nachricht geben. Am Abend gebe ich schließlich die Kinnarodden-Wanderung auf. Selbst eine alternative Wanderroute
wäre wegen des schmerzenden
Fußgelenkes nicht mehr in Frage gekommen. Trotzdem ist es nicht leicht, die Tour abzubrechen. Ein halbes Jahr Vorbereitung
ist praktisch umsonst gewesen.
Im steinigen Gelände bin ich
froh um meine festen
Schuhe,
sonst wäre es wegen des Fußes kritisch geworden. Das
Abendessen findet auf einem dicken platten Stein in der Nähe
meines Zeltes statt: Eintopf aus der Tüte, Müsliriegel und
Magnesium stehen auf dem Speiseplan. Weil es richtig kalt
geworden ist, muss ich mich mit
Fleecejacken
in den Schlafsack legen.
Die Nacht ist anstrengend, denn andauernd werde ich von
Geräuschen geweckt. Gegen fünf Uhr in der Früh stehe ich
wieder auf und genieße erstmal auf der Anhöhe den weiten
Blick in die Einöde. Während der
Sommermonate
wird es nicht dunkel. Danach baue ich das Zelt ab und starte
den Rückweg. Trotzdem will ich noch nach Kinnarodden! Der Rückweg klappt besser als der Hinweg.
Zur Überquerung des Bachlaufes suche ich mir diesmal eine leichtere Stelle. Unterwegs
treffe ich eine Frau aus Mehamn, die mal eben so „in der Gegend herumspaziert“. Behende und schnell wie eine Gazelle springt sie von Stein zu Stein und
winkt mir lachend
zu. Dieselbe Strecke, für die ich eine halbe Stunde gebraucht habe,
schafft sie in
knapp fünf Minuten. Man muss wohl hier geboren sein, um den nördlichsten Punkt Europas
erreichen zu können, sage ich mir und stolpere weiter. Bereits am späten Mittag
bin ich wieder am
Hotel in Mehamn. Dort stellt mir Peter den Kontakt zu Viktor her, einem norwegischen
Fischermann, der mich tags darauf mit dem Boot nach Kinnarodden fahren
soll. Das
nördlichste...
Bis
es soweit ist, schaue ich mich ein bisschen auf der
Nordkinnhalbinsel um. Ich bestaune den nördlichsten
Leuchtturm, das nördlichste Museum im nördlichsten Dorf,
fahre an dem nördlichsten Kiefernwald vorbei und verirre
mich gewaltig auf dem nördlichsten Wanderweg. Am Nachmittag ist es endlich soweit. Viktor
kommt mit seinem Holzboot namens Jostein in den Hafen gefahren, um mich aufzunehmen. Beide, Viktor und der
Kahn, sind undefinierbar alt. Zudem kann Viktor kein Englisch oder Deutsch, aber wir
haben viel Spaß. Stark schaukelnd und mit tuckerndem Dieselmotor
schippern wir Kinnarodden entgegen, dem Ziel meiner Reise.
Vorbei fahren wir an trostlosen und steinigen
Gegenden. Da wächst keine Pflanze mehr, kein Grün hat soweit nördlich mehr eine Chance,
zumindest an den Wetter zugewandten Seiten hier auf der Nordkinnhalbinsel. Hier
passt besser das Marsmobil
Sojourner hin, das gerade aktuell die Marsoberfläche
untersucht. Kein
Tier und kein Mensch sind zu sehen, bis auf zwei Hütten, die am
steinigen Ufer stehen.
Wahrscheinlich sind es Nothütten für Schiffbrüchige oder Fischer.
Geschafft!
Endlich passieren wir Kinnarodden, den
nördlichsten Punkt auf dem Festland Europas. Es ist ein Hangabriss, der an einem bis zu
300 Meter hohen, langgezogenen Plateau anschließt. Irgendwo da oben
soll das Wrack einer abgeschossenen Ju88 aus dem Zweiten Weltkrieg herumliegen. Davor
tauchen einige Felsbrocken aus
dem Wasser auf, auf denen eine Positionsmarke installiert ist. Von hier aus
ist alles
südlich, zumindest was das Festland Europa betrifft. Das Ziel ist erreicht, wenn auch anders, als
es geplant war. Viktor biegt in die nächste Bucht ab und kocht Kaffee. In dieser Bucht
halten gerade auch mehrere Weißwale ihr Abendmahl. Deutlich kann ich durch ein
Fernglas ihre Atemlöcher erkennen. Auch das ist ein tolles Erlebnis. In der Ferne
können
wir sogar die Insel Magerøy mit dem Nordkap erkennen. So gutes Wetter
herrscht Ende Juli
hier oben. Nach einiger Zeit fahren wir nach Mehamn zurück. Dabei blendet die Sonne so stark, dass ich an Land nichts mehr erkennen
kann. Den Preis für meine Blinzelversuche muss ich am nächsten Tag mit einer
Bindehautentzündung bezahlen. Im Sommer 1998 gehe ich das Projekt
Kinnarodden erneut an. Diesmal wandere ich mit meiner Freundin. Das gibt mehr Sicherheit
auf so einer Tour, die wohl eine Nummer zu groß für mich alleine und trotzdem ein
einmaliges Erlebnis gewesen ist...
|