Jahrzehntelang hörte
Skandinavien an einer vom Menschen geschaffenen Trennungslinie im Osten auf: an der
russischen Grenze. Diese Demarkationslinie verläuft vom Finnischen Meerbusen ungefähr
1.300 Kilometer an Finnland und Norwegen vorbei bis zur Barentssee. In diesem Gebiet, dem
russischen Skandinavien, liegt auf 68° 58' nördlicher Breite und 33° 05' östliche
Länge Murmansk. Sie ist die größte Stadt nördlich des Polarkreises. Dort leben
ungefähr 450.000 Menschen.
In der Zeit des
‚Kalten
Krieges’ galt Murmansk als Hochburg militärischer Wichtigkeiten und Geheimnisse. In
dieser Region wurde das ungeheure Atombombenpotential der gesamten
Eismeerflotte gelagert.
Eine Stadt vom Krieg für den Krieg. In der Nähe liegen ebenfalls am Murmanskfjord die
kleineren Städte Poljarnyj und Severomorsk.
Welche Gründe gab es für die Russen, diese Stadt
hier an den Ufern des Murmanskfjordes rund 50 Kilometer südwärts der
Barentssee zu
gründen? Werfen wir erst mal einen Blick auf den Naturraum der Kola-Halbinsel, an dessen
Westseite Murmansk liegt und wo insgesamt zwei Millionen Menschen leben. Der
rund 100.000 Quadratkilometer große Landesraum grenzt im Norden an die Barentssee und im
Osten an das Weiße Meer.
Ihr geologischer Aufbau besteht
hauptsächlich aus Gneisen, Graniten und kristallinen Schiefern, welcher von
Gletscherablagerungen der letzten Eiszeit überformt ist. Im Norden steil fällt Kola zum
Süden flach ab. Im Westen sind die höchsten Erhebungen, wie das Chibiny-Gebirge mit 1191
Metern. Dort in der Nähe der Stadt Montschegorsk 100 Kilometer südlich von Murmansk
finden sich auch Bodenschätze wie z. B. Apatit, was zur Kunstdünger- und Titangewinnung
genutzt wird. Die drei Meeresküsten der Kola-Halbinsel werden im Norden von der
Murman-Küste, im Osten von der Tersche-Küste und im Süden von der
Kandalatschka-Küste begrenzt Im Nordteil der Halbinsel ist die Tundra vorherrschend, die im mittleren Teil in die
Waldtundra übergeht und sich im Süden Kolas in Fichten-Föhren-Wald fortsetzt.
Also, landschaftlich dürfte es in diesem
Kältegebiet kaum einen Grund gegeben haben, hier vor 78 Jahren eine so große Stadt wie
Murmansk zu bauen. Da spielt eher die Lage zu der im Winter eisfreien Murman-Bucht eine
Rolle. Nur von dort ließ sich der Schiffsverkehr nach Europa realisieren und zwar
ganzjährig. Sibirien war damals zu weit und zu unerschlossen, und Moskau war ‚nur’ 1.500
Kilometer entfernt.
Nach dem
Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich das
russische Waffenarsenal auf Kola. So hätte ein Angriff des Westens von dort frühzeitig
abgewehrt werden können, und selbst Amerika wäre über den Pol leicht zu erreichen
gewesen. Diese Gründe, die aus Nordskandinavien einen primären Kriegsschauplatz gemacht
hätten, führten u. a. dazu, dass Norwegen 1949 seine außenpolitische Neutralität aufgab
und der NATO beitrat.
Die Anbindung an St. Petersburg
erfolgt über die Murman-Bahn, die ebenfalls 1915-17 gebaut worden ist.
Gerade diese Bahnlinie - seit 1935 Kirow-Bahn genannt - schnitt sich wie eine Lebensader durch das östliche
Skandinavien. Nach 1945 wurde diese Trasse bis nach Nikel fortgeführt. Heute finden sich
an dieser 1450 Kilometer langen Eisenbahnlinie nach St. Petersburg wichtige
Industriezentren wie Petrosawodsk, Belomorsk und Kandalakscha.
In der Hörfunksendung ‚Grenzfälle - Das Eis
schmilzt’, gesendet am 30. September 1993 auf
WDR 3, die das nördliche Skandinavien an
der russisch-norwegischen Grenze vorstellt, bot der Autor Armin E. Möller einen
interessanten Einblick in das Leben der Murmansker zur Zeit des ‚Kalten Krieges’.
Das Volk der
Samen wurde damals brutal auseinander gerissen. Rund 1.500 Samen konnten nicht mehr zu ihren Familien zurück. Sie
mussten mit den dürftigen Weideplätzen auf Kola zurechtkommen.
Lange Jahre glaubten die Nordrussen,
dass z.
B. Norwegen ein armes Land wäre - beim Anblick der vollen Regale in ihren Geschäften. Die
Isolation war so perfekt, dass sich bei den Murmanskern Ende der siebziger Jahre das
Gerücht hielt, die chinesische Armee stünde an der norwegisch-russischen Grenze um
einzufallen. Vorausgegangen waren Differenzen an der chinesisch- russischen Grenzen im
fernen Asien. Dennoch war der Glaube an diesem Gerücht so intensiv,
dass Familien aus
Angst vor einem Angriff ihre Kinder nach Mittelrussland schickten.
Als der polnische Fotograf Jan Morek im Mai
1987 für das Buch ‚Ein Tag im Leben der Sowjetunion’ (erschienen im Christian-Verlag
München, 1988), Murmansk fotografieren wollte, wählte er das Sekretariat des dortigen
Fischereizentrums als Motiv. Dort rechnete die Buchhaltung noch mit uralten
Abakus. Als er
das einen Tag später fotografieren wollte, waren diese alten Addiermaschinen gegen
neue ausgetauscht worden.
Ebenfalls 1990 bereiste
Peter Nestler im Auftrage des Südwestfunks Baden-Baden für seinen Dokumentarfilm
‚Die Nordkalotte’ die Kola-Halbinsel (Ausgestrahlt in der ARD im März 1991). Seine
Bestandsaufnahme zeigt ein eher düsteres Bild der Kola-Halbinsel.
Im Chibiny-Gebirge im Südwestteil auf Kola
haben die Russen seit 1964 einen Erzberg abgetragen, sie haben „den Berg zum
Tal“ gemacht. Die Waldtundra ist vernichtet, und die Böden der Rentierweideflächen
sind für Jahrhunderte mit Nickelgiften verseucht.
Die Schadstoffe, die auch Finnlands Wälder
zerstören, sollen reduziert werden. Finnland will deshalb für 1,5 Milliarden DM die
russischen Fabriken sanieren (1990). Für Finnland bedeutete das Auseinanderbrechen der
Sowjetunion auch starke Einbußen in der heimischen Schiffsindustrie. Die Großaufträge
aus Russland für Schiffe blieben aus. Dennoch ist in Finnland die Talsohle anscheinend
durchschritten. Die Werften melden Aufträge, wenn auch nicht mehr überwiegend aus
Russland.
Nicht nur die Finnen haben Angst, auch die
Norweger sind um Schadensbegrenzung bemüht. In der anfangs erwähnten Hörfunkreportage
berichtet Armin E. Möller, dass norwegische Techniker versuchen, das marode Atomkraftwerk
bei Murmansk instand zuhalten. Im Falle einer nuklearen Katastrophe gibt es in Murmansk
noch nicht einmal einen Katastrophenschutzplan. „Wir haben doch alles unter
Kontrolle“, heißt es dort. Diese optimistischen Aussichten stimmen einen nicht
gerade optimistisch.
Mittlerweile existiert eine Flugverbindung
(1994) zwischen Murmansk und der norwegischen Stadt Tromsø, von den Russen betrieben, und an dem
russisch-norwegischen Grenzübergang Jakobslev herrscht reger Grenzverkehr. Die Russen
brauchen das westliche HiTech-Know-How. Die Norweger bringen eine Zeitung auf russisch
heraus, die in einer Auflage von 100.000 Stück in und um Murmansk erscheint. Darin werden
Dienstleistungen angeboten. Die Zeitung, fünf Kopeken das Exemplar, findet reißenden
Absatz.
Dabei lässt sich die Region gut mit Motorrad oder
über Finnland erreichen. Alternativ geht es auch mit dem Zug von
Sankt Petersburg aus oder mit dem norwegischen Postschiff oder direkt mit
Flugverbindungen in die nördlichste Ecke Skandinaviens.
Reiseunternehmen suchen für Touristen
auf Kola neue Angelparadiese, um nur ein Beispiel der möglichen Nutzung zu nennen.
Die gesamte Region verändert sich. Die Berichterstattung in den Medien fällt
vielleicht schon mal tendenziös aus, auch soll hier kein Schreckensszenario
angedeutet werden. Außer den Nachrichten des im Frühjahr 1989 im Nordmeer gesunkenen
russischen Atom-U-Bootes
Komsomolez und ab
und zu einer Meldung über die kontinentale Tiefenbohrung auf Kola ist der
Informationsstrom aus dem Norden Russlands zurückgegangen.
Jetzt schaute die Welt wieder auf Kola. Denn im
November 2001 ist das gesunkene Atom-U-Boot
Kursk gehoben worden. Dieser
Kampfkoloss war mutmaßlich nach einer gewaltigen Detonation im Bug am 12.
August 2000 gesunken. Dabei kamen die etwa 120 Seeleute an Bord der Kursk
ums Leben.
|